Die Globalisierung und die utopische Provinz

Die Globalisierung und die utopische Provinz

Schon lecken sich einige in Krachlederhosen lüstern die Lippen. Es gibt, so die Demoskopen, einen Trend in den teutonischen Köpfen, der als Abwendung von der Globalisierung bezeichnet werden kann. Das erstaunt, galt es doch lange als ausgemacht, dass im Land des Exportweltmeisters Weltöffnung wie Weltoffenheit eine Voraussetzung für den Erfolg des Modells sind. Grund für die Trendwende, so die kurz geschnittenen politischen Analysten, sei die Corona-Krise. Da liegen sie, um das gleich anzumerken, falsch. Denn alles, was jetzt zum Vorschein kommt, war latent vor dem Virus bereits da. Manches hat sich dadurch verstärkt, anderes wurde beschleunigt. Neu ist das Phänomen nicht, aber es wird falsch beschrieben. Es geht nicht um eine Rückkehr zum nationalen, pseudo-romantischen Stelldichein, sondern um die Spielregeln, die derzeit auf dem Globus gelten. Die sind vom Neoliberalismus durchdrungen und sie richten vieles an, was mit der Abstraktion der Vernichtung gut beschrieben werden kann.

Die konkreten Erfahrungen mit der Globalisierung, wie sie die meisten teilen, hängen mit der Verwertungslogik zusammen. Da sind die Nordseekrabben, die durch halb Europa gekarrt werden, um in Marokko geschält zu werden und dann wieder auf dem Markt in Hamburg erscheinen, da sind die neuen Zwiebeln, die gestern stolz präsentiert wurden und aus Neuseeland kommen. Da sind Arbeitskräfte, die vor Ort gebraucht würden, um die schlimmste Not zu lindern, die jedoch durch Welt gekarrt werden, um dort, wohin sie gelockt werden, die lokalen Arbeitskräfte zu unterbieten, da sind die Kinder, die in die Kobalt-Minen im Kongo getrieben werden, damit die Handys ihren Preis behalten, da sind die Avocado-Plantagen in Chile, die den benachbarten Kleinbauern das Wasser entziehen und sie sprichwörtlich ins Gras beißen lassen, da ist das brennende Amazonas-Gebiet im schönen Brasilien, damit das Vieh, welches als saftiges Steak für Europa gedacht ist, ein wenig Auslauf hat… Das ist alles bekannt und, glauben Sie mir, tief im Innern übt es keinen Charme aus, auch bei denen, die das alles noch distanziert aus der Supermarkt-Brille betrachten können.

Wenn die Corona-Krise etwas lehrt, dann ist es die Erfahrung, wie lebensbedrohlich irrsinnige Lieferketten werden können, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Medikamente und Masken, die exklusiv nur aus China zu beziehen waren, haben das deutlich gemacht. Selbst jetzt wäre es China, säßen dort die bösen Buben, von denen so gerne die Rede ist, Europa in kurzer Zeit auszuschalten, in dem es keine Antibiotika mehr lieferte. Kein Schuss müsste fallen, um dem Kontinent das Licht auszublasen.

Die Alternative, um die es geht, auch das wissen viele, ist nicht das Heimattümelnde und die Abkehr von modernen Produktionsverfahren und Verkehrsformen. Wer das postuliert, ist eher von einer kruden Romantik überwältigt oder als politisch gefährlich einzustufen. Es geht um die Herstellung von lebenssichernder Autarkie, um die Belebung des Gedankens der Souveränität und Autonomie, der dennoch verknüpft ist mit größeren Ordnungen, die größer flächige Operationen ermöglichen. Um es vielleicht etwas pointiert zu formulieren: es wird nach Modellen gesucht, die so etwas herzustellen vermögen wie global vernetzte Provinzen, die sich ihrerseits kontinentale höhere Ordnungen schaffen, um Infrastruktur, Bildung und Verteidigung zu gewährleisten.

Es geht um das irdische, handfeste Konstrukt einer utopischen Provinz, die den Begriff der Demokratie radikaler fasst und sich eigene Institutionen schafft, die nicht kontaminiert sind vom Virus des Wirtschaftsliberalismus, sondern der regionalen Selbstbestimmung und dem Gemeinwohl dient. Ein sich aus diesen Gedanken ableitendes Europa sähe anders aus, von der Konstitution bis zur geostrategischen Ausrichtung. Zugegeben, ein sehr radikaler Gedanke. Aber, ist ein Festhalten an dem Bestehenden in der Lage, der zugegeben oft geschickt formulierten Kritik des Neo-Nationalismus standzuhalten?

Gerhard Mersmann

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