Parteien am Ende – Für einen Neustart durch die ZivilgesellschaftHeinz Kruse

Parteien am Ende – Für einen Neustart durch die Zivilgesellschaft

1          Einleitung

Die zweite Corona-Welle hat die Fassade politischer Kompetenz zer­brochen: bürokrati­scher Wirrwarr und dummes politisches Geschwätz mischten sich mit Selbstdar­stellung, Kumpanei und Geschäftemache­rei. Corona ist beispielhaft für eine erstarrte Politik, die unfä­hig ist zur Lösung unserer Zukunftsaufgaben. Offen ist, welchen Beitrag die Zivilgesellschaft für eine Erneuerung von Politik und Gesellschaft leisten kann.

2         Parteien – im letzten Jahrhundert stehen geblieben

Deutschland und Europa sind erstarrt. Digita­lisierung, Klimakrise und Umweltschutz stoßen auf politi­sche Handlungs­unfä­higkeit. Es gibt keinen Masterplan für den technischen und öko­logisch-sozialen Wandel. Die Parteien handeln allein mit der de­struktiven Ab­sicht der Si­che­rung ihrer Macht. Die Politik hat sich verselbständigt und von der Ge­meinschaft des Volkes abgenabelt. Gleiches gilt für die Me­dien und die globalen wirtschaftlichen Eliten. Sie leben in einer globalen Dunstglocke – abseits von der Mehrheit der Bevölkerung.

Die Gräben zwischen der selbsternannten globalen Elite und der Bevölkerung wachsen. Ein neues Kauderwelsch vermanscht die Sprache und führt zum realitätsfernen Denken. Politische Aussagen werden zur belanglosen politischen Plapperei ohne Sinn und Verbindlichkeit. Es  herr­schen ge­dankliche Leere und hoffnungslose Überschät­zung eigener Wirkmöglichkeiten.

Militäreinsätze auf der ganzen Welt zeigen Größenwahn und groteske Selbstüberschätzung. Die Selbstgefälligkeit politischer Akteure ver­weigert sich je­dem belast­baren Realitätsbezug. Weltweite Militärpräsenz soll nach Innen Stärke demonstrie­ren. Aber im globalen Spiel der Kräfte sind unser Land und die EU ein hilf­loser Gernegroß. Das hindert nicht an Selbstüber­höhung und den Glauben an ein globales Sen­dungsbewusst­sein. „Deutschland reicht nicht, man muss die Welt retten.“ Da­bei ist man nicht nur von den Welthandelsnationen (z.B. China und USA) abhängig, son­dern auch von globalen technischen Konglomeraten. Trotz­dem be­steht der Wahn politi­scher Machbarkeit von Wirtschaft und Gesell­schaft.

Reformen stoßen in der Politik auf Mauern. Externe Berater helfen nicht, da es um Macht­strukturen geht. Reform­versprechen (wie die offene Ver­waltung oder gar der lernende Staat) sind eine ferne Fiktion. Wie in einem Ma­rionetten­theater wird nach fremden Strippen ge­tanzt. Zwar sehen viele Politiker Män­gel und strukturelle Schwächen, aber die führenden Ex­ponen­ten politischer Macht profi­tieren von den bestehenden Strukturen. Der schöne Schein wird nur mit Hilfe der öffentlichen Medien gewahrt, weil bestehende Defizite verschleiert werden. Tat­sächlich sind Wege in die Zukunft blockiert. Dies bewirkt eine tiefgreifende Po­la­risierung un­serer Gesellschaft und Deutschland und Eu­ropa geraten in eine Abwärtsspirale.

3          Die Zivilgesellschaft ist gefragt

Die Medien fallen als Ideenspender aus. Sie sind mehr oder weniger politische Beifallsorgane geworden. Das gilt vor allem für die einflussreichen TV-Sender. Von ihnen kommen keine Anstöße zur Selbster­neuerung der Politik. Sie weben mit am unentwirrbaren Knäuel von Lü­gen, Halbwahrheiten und Halbwis­sen und lenken ab von Missständen. Es fehlen Anstöße für eine offene, lern- und anpassungsfähige Po­litik zur strukturellen Erneuerung.

Das Dilemma von Bürger- und Zivilgesellschaft ist, dass die Politik viele selbstor­ganisa­tori­sche Gestaltungsräume der Bürger besetzt hat. Mit Sprechverboten und Spra­chlenkung wurde die Gemeinschaft bis zur Handlungsunfähigkeit zersplittert. Zudem sind viele Gruppen der Zivilgesellschaft ideologisch erstarrt. Sie beharren auf alten Rezepten ohne praktische Rele­vanz. Kritische Aufsätze und Bü­cher füllen lange Re­gale, doch leider fehlt „das geistige Band“ für ein praktisches Vor­gehen. So reihen sich De­mos, Proteste, neue Parteien  und im­mer neue Aufrufe zum Wider­stand fol­genlos an­einander.

Viele versuchen, den ganz „großen Wurf“ (ihre Systemlösung) zu finden. Der Glaube an die einzig richtige Lösung führt letztlich zur Recht­haberei, Zersplitte­rung und zum Verlust von Perspektiven. Ein weiterer Aspekt ist die Komplexität der Lage. Sie lähmt, weil schein­bar alle Bereiche mitei­nander vernetzt sind. Wenn Teillösungen kaum vorstellbar sind oder den ideo­logischen Ansprüchen nicht gerecht werden, wird jegli­che Erneuerungskraft gelähmt.

Die Zukunft ist keine lineare Fort­setzung der Vergangenheit. Es gibt nicht den einzig wahren Lösungsweg für die neue Welt und keinen gordischen Knoten, den man für den Sys­temwech­sel nur durchhauen muss. Es geht nicht um die ‚richti­ge Ideo­lo­gie‘, sondern um eine stabile Basis für kleine Lösungs­schritte, die nicht an ideo­logischen Gren­zen erstarren. Die Welt ist zu komplex für den großen Wurf. Lösungen sind das Ergebnis von Han­deln, Ler­nen, Korrigie­ren, neuen Ver­suchen und praktischen Re­formen. Das ist die Herausforderung von Bürger- und Zivilge­sell­schaft, denn die Erneuerung kann nur durch sie erfolgen.

4          Was ist zu tun?

Aktives Handeln setzt Souveränität voraus. Bürgerinnen und Bürger haben auf die Zweckmä­ßigkeit des Parteiensystems und auf die Rückbindung der Politik an die Ordnung des Rechts vertraut. Sie haben ihre Souveränität nicht wahrgenommen und sich nicht als Souverän der Demokra­tie selbst eine Verfassung gegeben. Z.B. haben sie nicht durchset­zen können, dass die Vor­gabe einer Verfassung für das deutsche Volk (Art. 146 GG) nach der Wiedervereini­gung rea­lisiert wurde. Es wäre ein wichtiger Schritt gewe­sen. Denn nach der Er­klärung der Menschen- und Bür­gerrechte von 1789 beruhen demokrati­sche Ver­fassungen auf dem Gedan­ken der Souveräni­tät.

Souve­ränität und Selbstbestim­mung sind Grundlage einer freien und handlungsfähigen Ge­meinschaft von Gleichen. Freie Men­schen nehmen ihre Rechte als Sou­verän wahr, indem sie sich eine Verfassung ge­ben. Denn das Volk (als Gemeinschaft) ist die legitimierende Recht­fertigung der Verfassung, somit die einzige Legitimationsbasis der Politik. Die Aufklärung hat gezeigt, dass eine Ge­meinschaft in der Bestimmung ihrer Rechtsord­nung keiner Rückfüh­rung auf ein höheres Wesen oder auf höhere Rechte bedarf. Legitimation leitet sich aus dem freien Willen eines Volkes ab. Der normative Geltungsanspruch einer ‚Verfassung vom Volk‘ ist darin be­grün­det. Dieser Grund­legung hat sich unsere Politik faktisch entzogen.

Eine Verfassung, die sich das Volk gibt, ist Grundlage für friedliche Reformen. Mit ihnen nehmen handelnde Menschen eine aktive Rolle ein. Als ge­meinschaftlich handelnde Subjekte formen sie demokratische Gemeinschaften. Ein neues ‚Wir’ ist eine Ba­sis für politisches Han­deln. Daraus können Institutionen wie runde Tische, politische Kon­ferenzen, Regionalkonfe­renzen etc. entstehen. Sie institutionali­sieren erste Schritte in eine politische Rolle der Zivil­gesellschaft. Kommunikative Plattfor­men können dann das Band für Gemeinschaften werden, um wieder Kontrolle über das eigene soziale Leben zu gewinnen.

Plattformen  haben sich zuerst im Handel durchgesetzt. Sie ermöglichen aber auch den Aus­tausch von Ideen und Meinungen. Sie können viele Menschen kommunikativ mitei­nan­der verbinden und sachbezogen Ergebnisse dokumentieren. Reform­arbeit durch unter­schiedliche Menschen und Vereinigungen ist damit möglich. Voraussetzung für funktionierende Plattfor­men ist ihre Neutralität und Sachorientierung, um gemeinschaftsbildend zu sein. Der gesell­schaftlich expe­rimentelle Cha­rakter neuer Wege erfordert offene Arbeits- und Kommunikati­onsplattformen, auf denen ein breites Spektrum von Meinungen Platz findet.

Eine Herausforderung stellt das Zusammenführen ein­zelner Plattformen in übergeord­nete Er­kenntnisse und sachliche Lö­sungsschritte dar. Überregionale Kooperationen sind ein Ansatz, um Ideen und Ansätze für Lösungen zu finden. In einem ersten Anlauf sind z.B. folgende Ori­entierungen denkbar

  • Formierung von Bürgergemeinschaften
  • überregionale Kooperation
  • Schaffung einer unabhängigen, politisch handlungsfähigen Zivilgesellschaft
  • weiterführende Einrichtungen der Gemeinschaftsbildung (z.B. Runde Tische, regio­nale und kommunale Fachgruppen, Regionalgruppen und Regionalkonfe­renzen)

5          Eine neue politische Struktur  

Nur ein integrierendes WIR kann eine neue politische Struktur der Gemeinschaft schaffen. Das wird am ehesten gelingen, wenn die Themen erkennbare Bezüge zur Lage haben (Z.B.: Regionalisierung, Digitalisierung) oder von grundlegender Bedeutung sind (z.B. Gewaltentei­lung). Eine thematische Vorgabe sollte gegeben sein, um die sachliche Zuordnung von Argu­menten und Beiträgen zu ermöglichen. Beispiele:

  1. Regionales Handeln, Selbstorganisation in der Region, überregionale Kooperation
  2. Demokratisierung der Demokratie, Z.B strikte Trennung von Politik und Justiz
  3. Digitalisierung
  • Thema: regionales Handeln – Kompetenzen zwischen Politik und Bürgern

Dezentralisierung ist die Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft. Denkbar sind eigenständige, parteiunabhängige Bürgerrepräsentanzen in den Regionen. Mög­liche Formen sind Regionalkonferenzen, runde Tische und regionale Arbeitsgrup­pen um die Region als selbstorganisierte Basis der Demokratie zu nutzen. Ein anzustrebendes Ziel könnte die Institutionali­sierung regionaler Selbstverwaltung und z.B. die Über­führung öf­fentlicher Unternehmen in das Eigentum der regional ansässigen Bevölkerung sein. Das Fern­ziel wäre z.B. ein Europa der Regionen.

  • Demokratisierung der Politik

Gewaltenteilung auf allen politischen Handlungsebenen ist eine unerlässliche Grundlage für eine funktionierende Demokratie. Deshalb sollten demokratische Institutionen außerhalb der Parlamente dem Zugriff der Parteien entzogen werden. Leitlinie ist die Durchsetzung einer materiellen Gewaltenteilung, um die Kontrolle der Politik und ihre Rückbindung an die Ord­nung des Rechts auf allen Ebenen zu gewährleisten.

Beispiele: Direktwahl des Bundespräsidenten und gleichzeitige Stärkung seiner Rolle als Hü­ter der Ver­fassung. Verselbständigung des Rechnungshofes durch Direktwahl von parteiunab­hängi­gen Vertretern. Schaffung von Möglichkeiten zur wirksamen Ahndung von Willkür und Kompe­tenzüber­schreitung durch die Politik. Kontrolle der Medien durch parteiunabhängige Vertreter und Vertreterinnen in allen Gremien. Sicherung von neutralen und sachgerechten Be­setzungen von Stellen in herausragenden Institu­tionen wie Bundesbank und Verfassungs­gericht. Maßnahmen und Auswahlverfahren für eine neutrale und sachgerechte Justiz.

  • Digitalisierung

Kein Land kann sich der Digitalisierung entziehen. Die angemessene Teilnahme der Zivilge­sellschaft an der digitalen Revolution in Wirtschaft und Gesellschaft ist eine Existenzfrage. Bisher laufen die EU und Deutschland der Digitalisierung hinterher. Dadurch wird die digi­tale Transformation ausge­bremst und die Möglichkeiten neuer Techniken werden nicht ge­nutzt. Wir können uns den fundamentalen Form- und Ordnungsfragen der Digitalisierung nicht entziehen. Sie nicht zu beantworten führt uns und Europa in eine Abwärtsspirale.

Die Einbindung von Bürger- und Zivilgesellschaft in die digitalen Systeme ist für ihre Akzep­tanz und ihren Erfolg wichtig. Sie ergänzt und modifiziert reines Expertenwissen um das um­fassende Wissen und Wollen der Gesellschaft. Exemplarisch sind folgende Themen:

  • Schaffung einer digitalen Infrastruktur – Resilienz der Systeme steigern
  • modernes Datenrecht und Datenmanagement, durchgehende Kommunikationssysteme
  • KI in Administration und sozialen Verfahren
  • Bildungs- Ausbildungssysteme modernisieren, Stärkung von Selbstverwaltung, kreati­ven Fähigkeiten, kooperativen Kompetenzen und vernetzten Denkens.
  • Förderung von Gründungen, um die Transformation alter Strukturen zu beschleunigen
  • Maßnahmen zur Förderung des Kulturwandels in Wirtschaft und Gesellschaft in Rich­tung Lern- und Anpassungsfähigkeit, strukturelle Offenheit für Innovationen
  • Leitlinien der Datennutzung zur Verhinderung des Datenmissbrauchs

Digitalisierung und KI führen zu einer tief greifenden Transformation. Antworten darauf sind Voraussetzungen für die Gestaltung unserer Zukunft. Derzeit wird sich entscheiden, ob der Fortschritt Reisen ins All bringt oder der Mehrheit der Menschen eine lebenswerte Zukunft.

Heinz Kruse, Juli 2021

 

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